Offene Beziehung und ernüchternder Sex – Wie mir ein modernes Liebeskonzept die Fresse polierte
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Ein Online Date, es ist Nacht, eine Bar. Schnell die Parameter verglichen, als hyperkompatibel befunden. Im Bett gelandet, etwas Aufregendes, Neues erlebt. Ein paar Tage später sind wir uns sicher: Liebe auf den ersten Blick.
Er ist exakt das, was ich exakt jetzt haben wollte: Chaotisch, lustig, überehrlich, begeisterungsfähig. Er schickt seinen Freunden Pancakerezepte als Sprachnachricht und steht manchmal einfach nur herum und singt. Beide haben wir Kackbeziehungen hinter uns und kennen die komplizierten Lebensumstände als Eltern. Ich überzeugte Polyamoristin, er zumindest felderprobt.

Entzückt starre ich ihn an und fasse es nicht: Ein gemeinsamer Anspruch auf ein modernes, offenes und uneingeschränktes Liebesleben, eine gemeinsame Wut auf die Scheiße, die uns passiert ist, ähnliche Vorstellungen von ‚wollen-wir-nicht-mehr‘ und ‚werden-wir-ab-jetzt-haben‘. Keine Leistungsabfrage oder Eifersucht – dafür absolute Offenheit, natürlich wertfrei und tolerant. #embracing, #empowering, halt alles #awesome.

Wir sagen uns gegenseitig zu, dass Sex mit anderen Leuten nicht nur akzeptiert, sondern auch erwünscht ist, dass darüber (detailliert!) gesprochen wird und der Andere stets mit offenen Armen und Kicherhumor daran teilhaben kann. Offene Beziehung von Anfang an. Kein krampfiger Treue-Bullshit, einfach leben, lieben, lassen. Hand in Hand mit dem neuen Partner.
Fuck, was sind wir glücklich. Und fuck, fühlt sich das gut an, endlich jemanden zu haben, der bedingungslos liebt.

Ernüchternder Sex
Bis die Probleme uns einfach überrollen. Der partnerschaftliche Sex kann mit unserem Liebesrausch nicht mithalten. Unser WhatsApp-Chat ist voll mit sehnsuchtsvollen, erotischen Inhalten, aber nichts davon findet sich in unserem Bett wieder. So offen und tabulos, wie wir sind, sagen wir uns, was uns fehlt.
Die Liste wird lang. Der Penis zu krumm, die Vagina nicht eng genug. Die Toys nicht die richtigen, das Licht zu hell. Zu wenig Stellungen, zu viel Gerede. Eine Körpersprache, die erklärt werden muss, die Zunge weicher, die Haare offen. Eigentlich steht er ja auf größere Ärsche und ich auf frisch geduscht. Wir kommen irgendwie zum Orgasmus, in den Köpfen jedoch weit entfernt: Ich beim nächsten Date, er Ich-weiß-noch-nicht-mal-wo.
Bei einem wütend betrunkenen Talk mit Freundinnen erfahre ich, dass es vielen schon so ging: Dass der Sex anfangs „schwierig“ und dann irgendwann nach intensiverem Kennenlernen umso besser wurde. Wir sind ja auch erst kurz zusammen. Das wird schon werden. Hey, Lisa hat grade mit ‘nem Mikropenis zu kämpfen, es könnte also schlimmer für mich laufen.

Wir können alles tun, was wir wollen
Diese Situation ist für mich ein Proof of Concept: Zu gut erinnere ich mich an die Frustphasen in meinen vergangenen monogamen Beziehungen, in denen die Wut über den unzulänglichen Sex mit meinen Partnern in regelrechte Krampfparaden aus Beengung, Verzweiflung und Rage mündeten. Diesmal wird es nicht so sein. Diesmal habe ich von Anfang an mein Kreuzchen an der richtigen Stelle gemacht.
Ist doch egal. Wir sind ja offen. Keiner kann uns was, wir lieben uns doch. Und arbeiten hochmotiviert daran, uns über andere Bettgeschichten das zu holen, was uns mit uns fehlt. Ich beruhige mich damit, dass wir emotional so committed sind, dass sowas Triviales wie Sex uns nicht aus der Ruhe bringen kann. Wir spüren, dass wir alles tun können, was wir wollen.
Wir modifizieren unsere Datingapp-Profile entlang unserer momentanen Bedürfnisse, um das wenige Kontingent an Zeit, das uns neben Leben, Liebe, Arbeit, Kinder, Tangokurs und Latte Macchiato bleibt, optimal auszunutzen.
Mein Date mit Malte gruselt mich, weil er 1:1 meinem Männerfetisch entspricht. Dass ich mir sofort vorstellen könnte, mich in ihn zu verlieben, versetzt mich in Panik und lässt mich das nächste Treffen um zwei Wochen verschieben. Ein Quickie mit einem früheren Arbeitskollegen lässt mich tanzend nach Hause streunen, die folgende Berührung mit meinem müden Partner fühlt sich im Vergleich dazu fade an. Er ist schlecht gelaunt, hungrig und will um elf Uhr ins Bett.
Bei seinem dritten Date ist der Sex bombastisch. Er hat Angst, mich zu verletzen und lügt die Geschichte so zurecht, dass ich möglichst wenig davon mitkriege.

Ein Haus aus Zucker und Liebe
Doch je mehr ich diesen Menschen liebe und mich an seine Präsenz gewöhne, desto größer wird meine Vision von Zukunft und Nähe: Ich sehe es vor mir, das Chaos auf dem Küchentisch in der gemeinsamen Wohnung, Geburtstage im Pyjama im Innenhof samt Lametta und wer zuerst im Bett ist, kriegt den Großteil der Decke.
Wir leben wie in einem Haus aus Zucker, Liebe und Wünschen, doch bei all den offenen Türen kommen wir nie beieinander an. Das ständige Hereinspazieren von sexuellen Quereinsteigern erstickt unsere Intimität im Keim.
Wenn wir mal im selben Raum sind, freuen wir uns überschwänglich über uns, aber selbst die intensivsten gemeinsamen Räusche sind nicht laut genug, um das Haus mit Leben zu füllen.
Nach den schlechten Beziehungen, die wir bis jetzt geführt haben, finden wir, dass wir ein Recht auf den vollen Leistungskatalog haben: Top Beziehung, Top Konditionen auf der Elternebene, Top Sexualität und Top Selbstverwirklichung. No more pressure, wenige Regeln, kaum Verpflichtungen. Doch wir merken – keines der Dates hat das Potential, uns über unsere fehlende Intimität hinwegzutrösten. Unser Zusammensein verliert an Dringlichkeit.
Ich treffe ihn irgendwann nur noch auf dem Flur. Breite die Arme aus, aber er rennt vorbei. Und ich entschließe mich, Schluss zu machen.

Aus Geilheit gescheitert 
Mit meinem selbstbeweihräuchernden Hype um ein ideales Liebeskonzept habe ich meine unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse in die Hände unbekannter Dates gelegt, statt den direkten Weg in die Arme meiner Liebe zu gehen.
Mehr noch, die ständige Prominenz um das Thema Sex fegte viel wichtigere Dinge einfach vom Tisch. Der emotionale Lottogewinn vom Anfang unserer Beziehung hatte uns arrogant und gierig gemacht. Dass wir unsere gemeinsamen Leiden von Anfang an verstanden, wir uns bei brutaler Ehrlichkeit nicht gegenseitig bewerteten, dass wir gemeinsam Ideen haben konnten und es uns Freude machte, gemeinsam Schimpfwörter zu benutzen, wurde einfach vergessen und übertrampelt.

Das Gefühl „danach“ ist ziemlich ernüchternd. Aus Geilheit gescheitert. Mit über 30. Obwohl ich niemals monogam leben wollen werde, weiß ich doch, dass ich mir beim nächsten Menschen Zeit nehmen werde. Zeit, um zu erfahren, wie es ist, sich mal gemeinsam zu langweilen oder Zeit, um herauszufinden, was den Anderen überrascht. Und Zeit, mal nachzuspüren, wie geil es sein kein, einfach mal nur ‘ne Scheiß Pizza essen zu gehen. Gemeinsam.

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